Afghanistans CEO
Nur mit Mühe und unter massivem Druck des Westens haben die beiden Kandidaten der Stichwahl um das Präsidentenamt Afghanistans, Ashraf Ghani Ahmadzai und Abdullah Abdullah, am vergangenen Wochenende eine Einigung in ihrem Machtkampf erzielt. Abdullah hatte Ghanis Wahlsieg in Frage gestellt und auf massive Fälschungen verwiesen. Das Ergebnis der Nachzählungen ist nicht bekanntgegeben worden; ob Hinweise stimmen, denen zufolge Ghani auch nach der Korrektur klar vorne liegt, ist nicht verifizierbar. Die jetzt erzielte Einigung sieht vor, dass er das Präsidentenamt erhält, während Abdullah zu einem neuartigen „Chief Executive Officer“ (CEO) mit Kompetenzen vor allem in der Tagespolitik ernannt werden soll. Die Ministerposten werden an beide Parteien gleichermaßen verteilt. Beobachter vermuten, die „Einheitsregierung“ werde, sollte sie bestehen bleiben, die aktuellen Machtverhältnisse im Land konservieren. Während Ghani dabei für die ultrakonservativen paschtunischen Stämme steht, ist Abdullah der Vertreter von Kräften der Nordallianz. Als treibende Figur hinter ihm gilt vor allem der Gouverneur der nordafghanischen Provinz Balkh, Atta Muhammad Noor, der das bedeutendste Wirtschaftszentrum Nordafghanistans kontrolliert – Mazar-i-Sharif.[1]
Die Sicherheitslage im Griff
In Mazar-i Sharif unterhält die Bundeswehr seit 2005 ihr größtes Feldlager in Afghanistan, „Camp Marmal“. Dort sind aktuell noch rund 1.450 von den insgesamt etwa 1.800 deutschen Soldaten am Hindukusch stationiert; von „Camp Marmal“ aus soll auch die sogenannte Ausbildungsmission geführt werden, an der sich die Bundesrepublik in den kommenden Jahren beteiligen will. Deshalb hat Berlin seit je erhebliches Interesse daran, Unruhen in Mazar-i-Sharif und dem umliegenden Gebiet zu verhindern, und dazu kooperiert es mit Atta Muhammad Noor. Atta wurde bereits in den Jahren unmittelbar nach der Besetzung Afghanistans vom Westen unterstützt, weil er als fähig galt, seinen Rivalen Abdul Rashid Dostum, einen berüchtigten Schlächter, in Schach zu halten und klare Machtverhältnisse im Norden des Landes herzustellen. Im Jahr 2004 wurde er mit westlicher Billigung Gouverneur der Provinz Balkh. Seither haben mehrere deutsche Minister sich mit ihm getroffen; im März 2012 ließ sich Bundeskanzlerin Merkel persönlich bei einer Zusammenkunft mit Atta fotografieren. Als Außenminister Westerwelle im Juli 2011 mit Atta konferierte, um die Übergabe der offiziellen Kontrolle über Mazar-i-Sharif an einheimische Kräfte zu zelebrieren, da hieß es erläuternd, der Gouverneur von Balkh werde „von Deutschen und Amerikanern hofiert“, weil er „die Sicherheitslage weitgehend im Griff“ habe und „Bereitschaft zu wirtschaftlicher Modernisierung“ zeige.[2]
„Ein Mörder, ein Krimineller“
Wie Atta Muhammad Noor die „Sicherheitslage weitgehend im Griff“ behält, zeigen Berichte von Kritikern. Atta, der seit Beginn der 1980er Jahre in den unterschiedlichen afghanischen Kriegen kämpfte und schon Anfang der 1990er als einer der mächtigsten Warlords des Landes galt, habe einst nahe Mazar-i-Sharif ein „Menschen-Schlachthaus“ unterhalten, hieß es vor rund zwei Jahren in einer Analyse der „Afghan Independent Human Rights Commission“ (AIHRC), die afghanische Kriegsverbrechen der Jahre von 1978 bis 2001 untersuchte.[3] Die Veröffentlichung der Studie wurde damals unterdrückt; ebenso kam es nicht zu einer Untersuchung der Verbrechen, denen Menschen zum Opfer gefallen waren, deren sterbliche Überreste in den vergangenen Jahren in Massengräbern auch im deutsch kontrollierten Teil Nordafghanistans entdeckt wurden. „Wenn Sie beispielsweise zu einem durchschnittlichen Afghanen, der im Norden lebt, über Gouverneur Atta sprechen, würden Sie hören: Er ist ein Mörder, ein Killer, ein Krimineller“, stellte 2009 ein afghanischer Beobachter fest: „Aber die ISAF-Staaten stellen sich taub.“[4] Vor allem von Übergriffen gegen die paschtunische Minderheit Nord-Afghanistans wurde immer wieder berichtet; Journalisten schilderten, wie etwa ein Arzt ermordet wurde, weil er Landbesitz in einem Stadtteil hatte, den Atta in seinen Besitz bringen wollte.[5] Der Journalist Marc Thörner warnte schon 2010 im Gespräch mit german-foreign-policy.com: „Die Polizei, die von Deutschland in Balkh ausgebildet wird, das ist die Polizei des Fürstentums von Gouverneur Atta. Diese Polizei – das ist durch verschiedenste Berichte und Zeugenaussagen belegt – ist offenbar auch noch dabei, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen.“[6]
Afghanistans Orangene Revolution
Atta Muhammad Noor, dem es gelungen ist, in den vergangenen Jahren riesige Geldsummen anzuhäufen und zu einem der reichsten Männer des Landes zu werden, wolle jetzt Reichtum und regionale Macht in überregionalen Einfluss umwandeln, heißt es nun. Er suche sich nach dem Tod des Nordallianz-Chefs Muhammad Qasim Fahim zum Anführer des tadschikischsprachigen Bevölkerungsteils aufzuschwingen, habe Allianzen mit Warlords im ganzen Land geschmiedet und eine hohe Summe Geld eingesetzt, um Abdullah Abdullahs Wahlkampf zu finanzieren. Ein afghanischer Journalist ist der Ansicht: „Abdullah ist nur eine Marionette von Atta“. Atta habe gedroht, heißt es nun, er werde „Regierungsgebäude stürmen und besetzen“ lassen, sollte Abdullah nicht „die Hälfte der Posten“ in der afghanischen Regierung bekommen: „Er hat eine orangefarbene Revolution wie in der Ukraine angekündigt und seine Leute in Kabul instruiert, orange Fahnen nähen zu lassen.“[7] In der Tat sei befürchtet worden, heißt es weiter, Atta könne einen Putsch anzetteln, sollten seine Forderungen nicht berücksichtigt werden. Mehrmals habe US-Präsident Barack Obama persönlich mit ihm telefoniert; mehrfach hätten ihn Soldaten einer US-Spezialeinheit in seinem Gouverneurspalast besucht, um ihm zu verdeutlichen, „dass es nicht zu seinem Besten wäre, wenn er gegen die Interessen Washingtons handeln würde“. Auch deutsche Diplomaten hätten sich eingeschaltet und „mäßigend auf ihn einzuwirken“ versucht.[8]
Die Stimme der Freiheit
Die Einigung vom vergangenen Wochenende kann als Erfolg für Atta gelten: Sein Kandidat Abdullah hat sich paritätischen Einfluss in der „Einheitsregierung“ gesichert; damit steigt auch die Chance für ihn selbst, seinen eigenen Einfluss wie gewünscht weiter auszubauen – nicht zuletzt dank der systematischen Förderung aus Berlin und Washington. Kritik aus der Bevölkerung hält der von Deutschland und den USA gestützte Herrscher mit eiserner Faust nieder; Medienvertreter etwa klagen über massive Pressionen. Erst letzte Woche ist die Journalistin Palwasha Tokhi im Zentrum von Mazar-i-Sharif ermordet worden. Tokhi hätte gerettet werden können. Weil sie vier Jahre lang für die Bundeswehr gearbeitet hatte, die von „Camp Marmal“ aus einen Rundfunksender betrieb („Sada-i-Azadi Shamal“, „Stimme der Freiheit im Norden“), gehörte sie zu den Personen, die nach dem Teilabzug der westlichen Streitkräfte als besonders gefährdet gelten und einen Antrag auf Ausreise nach Deutschland stellen können. Hätte Berlin ihrem Antrag stattgegeben, wäre sie noch am Leben. Wie es in Berichten erläuternd heißt, seien für Journalisten „auch Bedrohungen durch Regierungsmitarbeiter“ in Afghanistan „nicht auszuschließen“: Diese fielen jedoch „nicht unter die Kriterien, die von der Bundesregierung für eine Aufnahme früherer Mitarbeiter der Bundeswehr festgelegt worden seien“.[9]
Weitere Berichte zur aktuellen Lage in Ländern, die von Deutschland und anderen westlichen Staaten mit Krieg überzogen wurden, finden Sie hier: Vom Westen befreit (I) und Vom Westen befreit (II).
Neueste Kommentare