Politik Profi Betrug: «Wirecard – Die Milliarden–Lüge»
Wirecard: Der Whistleblower tritt ins Rampenlicht
Beim Auffliegen des Wirecard-Skandals hat ein Whistleblower in Singapur eine zentrale Rolle gespielt. Nun hat er seine Anonymität aufgegeben und tritt erstmals öffentlich auf. René Höltschi, Berlin 20.05.2021, 20.10 Uhr Merken Drucken Teilen

Massgeblich zur Aufdeckung des Betrugsskandals um den deutschen Finanzdienstleister Wirecard beigetragen haben Artikel der «Financial Times» (FT), mit Dan McCrum als Hauptautor. Doch dessen Arbeit wäre kaum möglich gewesen ohne die Informationen und Unterlagen eines bisher nie namentlich genannten Whistleblowers. Am Donnerstag hat dieser in einer konzertierten Aktion seine lange gehütete Anonymität aufgegeben: Er heisst Pav Gill und war 2017 bis 2018 in Singapur als Senior Legal Counsel tätig, als Hausjurist des Wirecard-Konzerns für die Asien-Pazifik-Region.
Hausjurist schöpft Verdacht
Zuvor und danach haben viele weitere Akteure zur Aufdeckung beigetragen, doch kommt Gill im Zusammenspiel mit der «FT» eine Schlüsselrolle zu. Er ist auch eine zentrale Figur im Dokumentarfilm «Wirecard – Die Milliarden–Lüge» der Münchner Produzentin Gabriela Sperl. Der Film wurde am Donnerstag der Presse vorgestellt, ist ab diesem Tag über den Abo-Sender Sky abrufbar und soll im Herbst in der ARD ausgestrahlt werden. Gleichentags haben die «FT» und die «Süddeutsche Zeitung» (SZ), die beide schon lange mit Gill zusammengearbeitet haben, ausführliche Berichte über ihren Informanten veröffentlicht.
Pav Gill ist laut eigenen Angaben 2017 über einen Headhunter zu Wirecard gekommen. Schon bald stiess er auf erste dubiose Hinweise und Warnzeichen. So wunderte er sich über die unerklärlich hohen Gewinne, die für die Asien-Pazifik-Region ausgewiesen wurden. Laut der «SZ» meldete sich eine Mitarbeiterin bei ihm und erzählte, sie habe Edo K., den Finanzchef von Wirecard in Asien, dabei beobachtet, wie er in einem Konferenzraum mit Filzstift Geldkreisläufe auf eine Präsentationstafel gemalt habe, vermeintliche Gewinne, die zwischen Tochterfirmen verschoben werden sollten. Es sei offenbar um erfundene Firmen und Scheinumsätze gegangen.
Im Dokumentarfilm schildert Gill, wie ihm eine interne Informantin bei einem klandestinen Treffen in einem Café umfangreiches Material übergibt, darunter gefälschte Rechnungen und Kontoauszüge, die Zahlungen an Firmen dokumentierten, mit denen Wirecard gar keine Geschäftsbeziehungen unterhielt. Die Informantin habe darauf hingewiesen, dass Zahlen erfunden und Umsätze aufgeblasen würden. Sie habe aber auch erklärt, dass nichts herauskommen werde, weil «Deutschland» und Jan Marsalek, das für das Asiengeschäft zuständige ehemalige Vorstandsmitglied von Wirecard, Bescheid wüssten und hinter der Sache steckten. Für ihn habe das damals nach Fiktion geklungen, er habe es einfach nicht glauben können, sagt Gill.
Marsalek übernimmt
Der Hausjurist informierte einen Kollegen, der bei Wirecard in Asien für die Compliance, die Regeltreue, zuständig war. Gemeinsam wandten sich die beiden im Frühjahr 2018 an die Konzernzentrale in Aschheim bei München. Zunächst sei dann «alles nach Lehrbuch» gelaufen, erklärte Gill in der «SZ»: «Es gab einen Verdacht, und wir haben ihn überprüft, mit Zustimmung der Rechtsabteilung in Deutschland.» Aus Deutschland wurden Kopien der E-Mail-Postfächer von Edo K. und dessen engsten Mitarbeitern nach Singapur überspielt. Was sie darin gefunden hätten, sei unglaublich gewesen, erzählt Gill: «Es wurden Rechnungen rückdatiert, Firmen erfunden und Logos auf Briefpapier montiert.»
Die interne Untersuchung und der Bericht einer beigezogenen externen Anwaltskanzlei erhärteten die Verdachtsmomente. Doch blieb das folgenlos. Nachdem die Erkenntnisse dem Wirecard-Vorstand präsentiert worden waren, habe man ihm erklärt, Jan Marsalek werde die Untersuchung übernehmen, erzählt Gill im Film. Das habe keinen Sinn ergeben, da auch gegen Marsalek Verdachtsmomente bestanden hätten und er nun gewissermassen gegen sich selbst ermitteln sollte.
Er selbst sei danach zum Problem geworden, weil er nicht lockerlassen wollte, sagt Gill. Man habe versucht, ihn zu bedrohen und zu bestechen. Auch habe man ihn ohne nähere Begründung auf eine Dienstreise nach Jakarta schicken wollen, für die es aber keinen geschäftlichen Grund gegeben habe. Seine Mutter fürchtete um sein Leben und ersuchte ihn dringend, nicht zu reisen. Pav Gill ist das einzige Kind dieser einst alleinerziehenden Mutter, die beiden verbindet bis heute ein enges Verhältnis. Zudem rieten Gill auch zwei «Quellen» in Deutschland von der Reise ab, da es ein One-Way-Ticket sei.
Schliesslich wurde der Hausjurist im September 2018 vor die Wahl gestellt, entweder selbst zu kündigen und positive Referenzen zu erhalten oder herausgeschmissen zu werden. Pav Gill verliess Wirecard. Weil ihn der Konzern zuvor während dreier Monate zu diskreditieren und zu zerstören versucht habe, habe er als «Schutzschild» belastende Unterlagen mitgenommen, erklärt er in der «FT».
Gleichwohl fühlte er sich weiterhin bedroht. Auf Drängen seiner Mutter willigte er ein, die Medien einzuschalten. Die Mutter schrieb zunächst die Investigativjournalistin Clare Recastle Brown an, die sich durch die Aufdeckung eines Finanzskandals in Malaysia einen Namen geschaffen hatte. Sie riet ihnen, an die «FT» zu gelangen, die sich schon zuvor kritisch mit dem Konzern beschäftigt hatte.
Der «FT»-Journalist Dan McCrum reiste nach Singapur und liess sich das Material von Gill zeigen und erklären. Am 30. Januar 2019 erschien jener inzwischen berühmte «FT»-Artikel, der Ungereimtheiten bei Wirecard in Singapur thematisierte und den Aktienkurs einbrechen liess.
Das Ende
Der Rest ist bekannt: Wirecard stellte die Berichterstattung in Abrede und sich als Opfer einer Intrige dar und erstattete Anzeige gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf Kursmanipulation. Zunächst hatte der Konzern mit dieser Strategie Erfolg. Im Februar erliess die Finanzaufsicht Bafin ein Leerverkaufsverbot für Wirecard, sie untersagte also Wetten auf sinkende Kurse der Wirecard-Aktie. Damit unterstütze sie in der öffentlichen Wahrnehmung das Wirecard-Narrativ, man sei Opfer eines Komplotts von Leerverkäufern und Journalisten geworden. Die Staatsanwaltschaft München ermittelte gar gegen die «FT»-Journalisten.
Doch weder die «FT» noch Gill liessen locker. Letzterer versorgte auch die «SZ» mit Informationen, Erstere recherchierte weiter und veröffentlichte im Herbst 2019 weitere belastende Ergebnisse. Hierauf beauftragte der Aufsichtsrat von Wirecard die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer Sonderuntersuchung, die die Zweifel erhärtete. Im Juni 2020 fiel das Kartenhaus schliesslich zusammen. Wirecard musste Insolvenz anmelden, nachdem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die jahrelang die Bilanzen von Wirecard geprüft hatte, das Testat für den Abschluss 2019 wegen fehlender Belege für angebliche Guthaben von 1,9 Mrd. € in Asien verweigerte.
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„Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ auf Sky Crime
Der packende Dokumentarfilm „Wirecard – Die Milliarden-Lüge“ von Sky und rbb/ARD zeigt, wie mutige Informanten und Journalisten gegen alle Widerstände einen der größten Finanzskandale aller Zeiten aufdeckten. Die Doku steht ab 20. Mai auf Abruf zur Verfügung und wird ab 27. Mai linear auf Sky Crime ausgestrahlt.
https://inside-austria.podigee.io/64-neue-episode
Inside Austria
Wirecard – eine österreichische Affäre? (4/4): Die Flucht
Wo befindet sich Jan Marsalek? In Folge vier geht es um die Flucht des Hauptverdächtigen. Wie konnte Marsalek durchs Netz schlüpfen und wer hat ihm geholfen?
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